Leben in einer europäischen Kulturlandschaft zwischen Russland und Litauen
Klaus Harer
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Einführung in die Podiumsdiskussion auf der Frankfurter Buchmesse 2007

Der Name Tilsit ist uns heute geläufig als Herkunftsort des Tilsiter Käses, und vielleicht noch als Ort, an dem 1807 zwischen Russland und Frankreich bzw. zwischen Napoleon und Kaiser Alexander ein Frieden geschlossen wurde, der zwar für Preußen sehr hart war, aber immerhin die positive Folge hatte, dass er die nachfolgenden Reformen in Preußen provozierte. Mancher wird auch den Auftritt der preußischen Königin Luise assoziieren, die in den Friedensverhandlungen allen ihr verfügbaren Charme einsetzte.

Tilsit war damals eine Provinzstadt Ostpreußens, an der Grenze zum Russischen Reich gelegen, an der Memel, jenem Strom, der in der ersten Strophe des Deutschlandliedes von Hoffmann von Fallersleben die Ostgrenze eines einst erträumten Deutschlands markierte. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wuchs die Stadt zu einem florierenden Standort für Handel und Industrie heran und erreichte im 20. Jahrhundert ungefähr 60.000 Einwohner. 1907 – vor hundert Jahren – wurde übrigens die berühmte Luisen-Brücke eingeweiht, die seitdem die beiden Memelufer verbindet. Seit jeher lebten auf beiden Seiten dieses Flusses Menschen unterschiedlicher Zunge, Litauer und Ostpreußen, und zwar nicht säuberlich getrennt, sondern durchaus neben- und untereinander. Lange Zeit war der Fluss eine Staatsgrenze zwischen Preußen und dem Russischen Reich. In der sowjetischen Zeit – nach dem Zweiten Weltkrieg – war das Nördliche Ostpreußen zum Kaliningrader Gebiet der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik geworden und Litauen zur Litauischen Sowjetrepublik. In dieser Zeit spielte diese Grenze innerhalb der Sowjetunion vielleicht eine geringere Rolle. Heute trennt sie das Kaliningrader Gebiet – also Russland im Westen – von dem EU-Mitgliedsstaat Litauen im Osten. Wenn im nächsten Jahr 2008 Litauen mit weiteren EU-Staaten dem Schengener Abkommen beitreten wird, dann wird diese Grenze noch schärfer behütet sein, als sie es heute schon ist.

Tilsit liegt auf der russischen, der westlichen Seite der Memel. Die Stadt heißt heute Sowjetsk, wie auch der Tilsiter Käse in ganz Russland »Sowjetischer Käse« genannt wird. Die Bevölkerung der Stadt, wie auch sonst in der Region auf beiden Seiten der Memel, setzt sich aus Nachkommen der sowjetischen Rotarmisten und der Neusiedler der ersten Nachkriegsjahre zusammen. Es gibt in Sowjetsk eine ansehnliche litauische Minderheit, die eine neue katholische Kirche aufgebaut hat, sowie eine Filiale des Litauischen Generalkonsulats. Am östlichen Ufer der Memel, in Litauen, leben viele Menschen, die mit ihren russländischen Zeitgenossen verwandt sind und mit ihnen ihre sowjetische Vergangenheit teilen. Sie sind Bürger der EU. Wie gestaltet sich heute das Leben der Leute auf beiden Seiten dieses Flusses? Wie ist ihr Verhältnis zu der Geschichte ihrer Region, die sich in den Bauwerken, in der Landschaft, in den Biografien der Einwohner so oder so eingeprägt hat?

200 Jahre nach dem Tilsiter Frieden
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