Das Ende des Alten Reiches und die Entstehung des Nationalitätenproblems im östlichen Mitteleuropa 1806/1815 – 1918/1919 – 1989/2006
Ariane Afsari
Dr. Miloš Řezník bei seinem Vortrag über die Entstehung und Problematik der Nationalstaatsbewegung in Ostmitteleuropa.
Prof. Dr. Manfred Kittel bei seinem Vortrag über die Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa nach dem Zweiten Weltkrieg. Links: Tagungsleiter Prof. Dr. Frank-Lothar Kroll.

Internationale Fachtagung vom 14.–16.12.2006 in Chemnitz, organisiert von der Professur für Europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts der TU Chemnitz in Verbindung mit dem Sächsischen Staatsministerium des Innern und der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen, Bonn

Aus Anlass des 200. Jahrestages der Auflösung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation hatten sich die Organisatoren der Tagung vorgenommen, den langfristigen Folgen nachzugehen, die das Reichsende von 1806 für die Entstehung des Nationalitätenproblems in Ostmitteleuropa hatte.

Der Charakter des Alten Reichs als übernationale Ordnungsmacht für die Nationalitätenpolitik im 19. Jahrhundert wurde im Vortrag (Beitrag folgt) »Nationalitätendenken und Nationalitätenpolitik in der Habsburger Monarchie 1815–1914« von Dr. Matthias Stickler sehr anschaulich dargestellt.

Mit dem Wegfall dieser Klammer und dem Scheitern alternativer überregionaler Zusammenschlüsse kam es zur nationalitätenpolitischen Polarisierung, wobei sich die Nationalstaatsbewegung laut dem Beitrag von Dr. Miloš Řezník mit dem Titel »Entstehung und Problematik der Nationalstaatsbewegung in Ostmitteleuropa 1848–1919« durch die Haltung auszeichnete, dass die nationale Zugehörigkeit eines Menschen zum wichtigsten Gruppenmerkmal wurde. Dabei musste die nationale Identität aber erst gebildet werden, und in diesem Entstehungsprozess erwies sich die Sprache als das wichtigste Kriterium. Beispielhaft werden die Slowaken genannt, die erst durch ihre eigene Sprache ein Gefühl für ihre Nationalität erhielten, denn ein Slowake im damaligen Oberungarn galt bis dahin doch eigentlich als ungarischer Tscheche. Řezník führte weiter aus, dass die Idee der Nation dem ständischen Prinzip zuwiderlief. In dieser Hinsicht sei die Nationalstaatsbewegung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durchaus positiv zu bewerten, da sie hier noch liberalen Charakter gehabt und großen Wert auf die Integration über ständische Grenzen hinweg gelegt habe – ganz im Gegensatz zur Nationalstaatsbewegung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In dieser Zeit verbindet sie sich mit dem Konservatismus und stützt dessen ideologischen Gedanken, demzufolge es nationale Zuschreibungen schon seit Urzeiten gebe, man müsse diese Urmerkmale nur wieder bewusst machen. Tatsächlich müssen jedoch diese angeblich so lange existierenden nationalen Grundzüge erst konstruiert werden. Eine wichtige Rolle bei dieser Konstruktion kommt der Romantik und ihrer Auffassung von der Sinnhaftigkeit der menschlichen Existenz und dem geistigen Charakter der Welt zu. Am sinnfälligsten wird der Zusammenhang für die nationalstaatliche Bewegung zwischen dem Geist der Romantik und dem Charakter der Nation in Herders Begriff der Volkskultur. Adressaten dieser späten Nationalbewegung sind die Menschen in der Provinz und auf dem Lande - die Verlierer des fortschreitenden Modernisierungsprozesses. Die Logik der Nationalstaatsbewegung sieht für eine Nation auch einen eigenen Staat vor. Doch nach dem Ersten Weltkrieg und dem Zerfall des übernationalen Habsburger Reiches übernehmen die Tschechoslowakei, Polen und Rumänien ein Charakteristikum der alten Ordnung: Sie sind als Nationalstaaten konzipiert und bleiben aber doch Nationalitätenstaaten.

Dr. Matthias Niendorf unternahm mit seinem Vortrag »Nationalstaat, Nation und territoriale Fragen im östlichen Mitteleuropa der Zwischenkriegszeit – Problemlagen und Lösungsversuche« eine Bestandsaufnahme der Zwischenkriegszeit im östlichen Mitteleuropa. Er machte darauf aufmerksam, dass in diesem Teil des Kontinents der Weltkrieg teilweise erst Ende der 1920er Jahre endete, da kriegerische Auseinandersetzungen zwischen Polen und Russland sowie zwischen Polen und der Tschechoslowakei andauerten. Mit Ausnahme des hochindustrialisierten Böhmen waren die Regionen Ostmitteleuropas vorwiegend agrarisch geprägt. Die ländliche Überbevölkerung führte zu hoher Arbeitslosigkeit. Die Weltwirtschaftskrise ab 1929 traf besonders die Luxusgüterproduktion, die hauptsächlich von Böhmen ausging. Der Niedergang dieser Betriebe sei in hohem Maße für die Radikalisierung der sudetendeutschen Minderheit in den 1930er Jahren verantwortlich. In der Außenpolitik lag der Schwerpunkt direkt nach dem Ersten Weltkrieg auf der Gründung kollektiver Sicherheitssysteme wie beispielsweise des Völkerbundes. Innenpolitisch lag der Akzent auf der Schaffung eines Mehrparteiensystems. In den 1930er Jahren kippten die Bestrebungen in beiden Bereichen: Außenpolitisch dominierten nun bilaterale Vertragswerke, und innenpolitisch kam es zu autoritären Umstürzen und radikalen Machtübernahmen – mit Ausnahme der Tschechoslowakei (und in eingeschränktem Maße auch Ungarn), die bis 1938 (bzw. 1944) ihre Demokratie bewahrten. Dieser Umschwung fußte auf den Grundproblemen der Zwischenkriegszeit in Ostmitteleuropa. Zum einen fehlte es an demokratietauglicher politischer Kultur. Niendorf führte hierzu aus, dass der Demokratisierungsprozess mit dem Abstraktionsniveau zusammenhänge: Während man mit einem geringen Demokratieverständnis noch immer eine demokratische Entscheidung über den Bau einer Chaussee zustande bringe, reiche das gleiche Verständnis nicht aus, um Fragen auf höherer Ebene demokratisch zu lösen. Zum anderen litten die neuen Demokratien unter dem deutsch-polnischen Grenzkonflikt sowie unter dem ungarischen Revisionismus, der sich aus dem nach Ungarns Niederlage 1920 unterschriebenen Friedensvertrag von Trianon speiste und durch den Ungarn mehr als zwei Drittel seine Hoheitsgebiets einbüßte. So blieb das Problem der Minderheiten in der Zwischenkriegszeit virulent, trotz der in den Pariser Vorortverträgen 1919/20 unterschriebenen Minderheitenschutzgesetze.

Prof. Dr. Ralph Schattkovsky ging in seinem Vortrag »Die europäische Minderheitenfrage nach dem Ersten Weltkrieg und der deutsch-polnische Minderheitenstreit« näher auf die Minderheitenfrage, vor allem in den deutsch-polnischen Grenzgebieten, nach dem Ersten Weltkrieg ein. Da der deutsche Staat eine aktive Revisionspolitik betrieben habe, musste der Verbleib von Deutschen in Polen gesichert werden. Dies war wiederum eine Frage der Staatsbürgerschaft: Nur Staatsbürger – also Bewohner, die für Polen optiert hatten –, konnten Minderheitenrechte wahrnehmen. Der vertragliche Status der Minderheiten wurde von Polen widerwillig akzeptiert, denn Ziel war es eigentlich, Polen zu einem einheitlichen polnischen Nationalstaat zu machen. Diejenigen, die für Deutschland optierten, sahen der Liquidation ihres Besitzes von Seiten des polnischen Staates entgegen, sanktioniert im Versailler Friedensvertrag. Für die revisionistische Politik des deutschen Staats war es wichtig, die Situation der Deutschen in Polen durch finanzielle Hilfen zu stärken und ihre Abwanderung abzuwehren.

Über »Alte Eliten im neuen Volksstaat – böhmischer Adel und nationale Frage nach 1918« referierte Dr. Jiří Georgiev. Hauptmerkmale des böhmischen Adels zu dieser Zeit waren, dass er relativ unbeschädigt von der Bodenreform blieb und dass er vor den nationalen Landespatriotismus andere Zugehörigkeitsmerkmale wie die Konfession, die Bildung sowie wirtschaftliche und politische Interessen stellte. So konnte es durchaus vorkommen, dass einige Großgrundbesitzer gleichzeitig im deutschen und tschechischen Verband der Großgrundbesitzer Mitglied waren. Von den 1930er Jahren an kam es jedoch auch in der Adelsschicht zu einer immer stärkeren Nationalisierung zugunsten der tschechischen beziehungsweise deutschen Volkszugehörigkeit.

Die Politik hinsichtlich deutscher Minderheiten im östlichen Mitteleuropa während des »Dritten Reiches« wurde im Vortrag »›Völkische Flurbereinigung‹ – die Politik der Rückführung deutscher Minderheiten im Dritten Reich« von Dr. Alexander Brakel pointiert erläutert, während Dr. Hendrik Thoß anhand der Untersuchung von »Theorie und Praxis nationalsozialistischer Eroberung und Vernichtung im europäischen Osten« die ideologischen Grundlagen und die Ausführungspraxis nationalsozialistischer Eroberung und Vernichtung im europäischen Osten zusammenfasste.

Über die Frage, wer an der Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa beteiligt war, sprach Prof. Dr. Manfred Kittel in seinem Vortrag »Mehr als ›Hitlers letzte Opfer‹. Die Vertreibung der Deutschen aus den deutschen Ostgebieten und aus Ostmitteleuropa«. Im Prinzip, so Kittel, gab es eine breite Zustimmung zur Vertreibung, sowohl bei den Politikern im Westen als auch bei denen in Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei. Die Alliierten glaubten, dass eine Stabilisierung Europas nur durch nationale Entflechtung möglich sei, wobei England die treibende Kraft darstellte. Ein wichtiger Aspekt der »wilden« Vertreibungen war deshalb die Angst, die Bereitschaft zur Umsiedlung großer Menschenmassen auf Seiten des Westens könne nachlassen. Deshalb sollten die auch von der Miliz und der Polizei gelenkten »wilden« Vertreibungen Fakten schaffen, die den Alliierten die Rücknahme des gewünschten Kurses unmöglich machen würde.

»Deutsche Minderheiten in den Vertreibungsgebieten nach 1945« – über dieses Thema referierte Ingo Eser, wobei er sich auf Polen und die Tschechoslowakei konzentrierte. Anfang der 1950er Jahre waren in Polen noch 180000 und in der Tschechoslowakei noch 230000 Deutsche ansässig. Vor allem für Polen seien diese Zahlen mit Vorsicht zu genießen, denn darunter fielen nur solche, die in Polen überhaupt als Deutsche galten. Dies waren die sogenannten Autochthonen: Oberschlesier, Masuren, Ermländer, Kaschuben, Slowinzen, Grenzmarkdeutsche. Sie sollten durch ein sogenanntes Verifizierungsverfahren repolonisiert werden. Es gab aber auch »vergessene« oder gezielt zurückgehaltene Personen, die nicht als Deutsche anerkannt waren. Man betrachtete sie in Polen und in der Tschechoslowakei als Arbeiter, die Reparationsleistungen erbrachten. In der Tschechoslowakei waren die Deutschen in West- und Nordböhmen, dem hochindustrialisierten Teil des Landes, konzentriert, während in Polen der Schwerpunkt der deutschen Besiedlung in Niederschlesien und hier in Wałbrzych (Waldenburg) lag. Auch an der Ostseeküste, vor allem in Stettin, waren viele Deutsche im Fischfang und in der Oderschifffahrt beschäftigt, während die verbliebene deutsche Bevölkerung in Pommern und Ostbrandenburg vornehmlich in der Landwirtschaft tätig war. In den 1950er Jahren kam es zur kontinuierlichen Abwanderung von Deutschen aus Polen und der Tschechoslowakei (zwischen 1950 und 1985 verlor Polen 95000, die Tschechoslowakei 40000 bis 50000 Personen).

Den Abschlussvortrag »Fremde Heimat? Flüchtlinge und Vertriebene in der SBZ/DDR« hielt Dr. Michael Parak. Nach Angaben der DDR gab es auf ihrem Gebiet drei Millionen Flüchtlinge, während bundesrepublikanische Schätzungen von vier Millionen Menschen ausgehen. Nach der Abwanderung, die bis zum Mauerbau andauerte, lebten 1965 noch etwa zweieinhalb bis drei Millionen Flüchtlinge und Vertriebene in der DDR. Parak skizzierte kurz die Rahmenbedingungen im SED-Staat für diesen Personenkreis: Da die zentrale Argumentationslinie lautete, dass die Vertriebenen revisionistisch, rückwärtsgerichtet und kriegshetzerisch seien, gab es keine Möglichkeit zur Brauchtumspflege. Im Vorfeld der Vertragsverhandlungen zur Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze gab es in diesem Personenkreis die meisten Bespitzelungen und Gesinnungsprüfungen. Der wichtigste Faktor bei der Integration dieser Flüchtlinge und Vertriebenen war der hohe Arbeitskräftebedarf in der DDR.

Zum Abschluss der Tagung wurde eine lockere Podiumsdiskussion mit dem Publikum zum Thema »Minderheitenpolitik und Minderheitenfragen im gesamteuropäischen Vergleich« geführt.