


Bis 1945 war Aussig eine überwiegend von Deutschen besiedelte bedeutende Industriestadt mit Textil-, Majolika- sowie Steingut-, Chemie- und Maschinenbaufabriken. Im Zuge der Industrialisierung erblühte auch das kulturelle Leben der Stadt, was sich heute im umfangreichen Bestand deutschsprachiger historischer Dokumente und Bücher des Stadtmuseums und des Stadtarchivs von Ústí nad Labem widerspiegelt. Die beiden Einrichtungen gehören zu dem seit Anfang 2004 bestehenden Projekt »Forschungszentrum und Bibliothek für tschechisch-deutsche Beziehungen des Museums der Stadt Ústí nad Labem«, an dem auch das 1991 gegründete Institut für Slawisch-Germanische Studien der Jan-Evangelista-Purkyně-Universität beteiligt ist.
Das Projekt wurde zu der Idee erweitert, ein Museum der Deutschen in Böhmen mit der Bezeichnung »Collegium Bohemicum« zu errichten, das das Archiv, die Bibliothek, eine wissenschaftliche Arbeitsstelle sowie Tagungs- und Begegnungsräume beherbergen soll. Im März 2004 fand dazu in Ústí eine internationale Konferenz mit dem Titel »Toleranz statt Intoleranz: Deutsche in den Böhmischen Ländern – gestern, heute und morgen« statt, an dem Wissenschaftler und Publizisten aus Tschechien, Deutschland, Österreich und der Slowakei sowie Politiker wie der tschechische Staatspräsident Václav Klaus, der Senatspräsident des Parlaments Petr Pithart und die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages Antje Vollmer teilnahmen.
Ein Ziel des vom 7. bis 9. Oktober 2005 veranstalteten Symposiums »Der Geist der Gründer« war es, die Idee dieser Einrichtung, deren Verwirklichung von der finanziell noch nicht vollständig geklärten Sanierung des 1876/1898 als Volks- und Bürgerschule erbauten Stadtmuseums abhängig ist, lebendig zu halten und die Aktivitäten der zugehörigen Institutionen zu dokumentieren. So spielte der Titel des Symposiums nicht nur auf die Zeit der Industrialisierung in Aussig an, sondern auch auf den Gründergeist des heutigen Ústí nad Labem. Wieder kamen interessante Gäste aus Wissenschaft und Politik wie der stellvertretende außenpolitische Sprecher der SPD Markus Meckel, der Direktor des Hannah-Arendt-Instituts Gerhard Besier und der ehemalige stellvertretende Außenminister der Tschechischen Republik Alexandr Vondra. Teilnehmer der Tagung waren Vertreter tschechischer, deutscher und österreichischer Institutionen, die sich mit der deutsch-tschechischen Geschichte in den böhmischen Ländern beschäftigen – darunter das Institut für Auslandsbeziehungen, Prag, die tschechische Bürgerinitiative »Antikomplex«, die Österreichische Akademie der Wissenschaften, der Adalbert-Stifter-Verein und die Ackermann-Gemeinde, München, sowie die Brücke-Most-Stiftung, Dresden und Prag. Die unter anderem von der Robert-Bosch-Stiftung, der Friedrich-Ebert-Stiftung und dem Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds geförderte Veranstaltung präsentierte drei Panels: »Die Historiker«, bei dem Wissenschaftler aus Österreich, Deutschland und Tschechien vornehmlich zur Industrialisierungsgeschichte in Aussig sprachen, »Die Zeitzeugen« mit lebendigen persönlichen Berichten ehemaliger Aussiger aus Industriellenfamilien, die von der Bedeutung ihrer Ahnen für die Stadt erzählten, und »Die Institutionen«, bei dem Jaroslav Achab Haidler, der Direktor des innovativen Schauspielstudios Ústí, das unter anderem das Stück »Der Wald der Wildsäue« über die Geschichte der Deutschen in Böhmen inszeniert hat Eva Haupt, Direktorin des Isergebirgsmuseums in Kaufbeuren und Václav Houfek, wissenschaftlicher Berater des »Collegium Bohemicums«, ihre Arbeit vorstellten.
Im mit eindrucksvollem historischem Mobiliar ausgestatten Stadtmuseum präsentierten Ondřej Matějka und Petr Mikšíček am Abend die Arbeit ihrer Gruppe »Antikomplex«, diesjähriger Ehrenpreisträger des Georg-Dehio-Kulturpreises, die neben der Fotoausstellung »Das verschwundene Sudetenland« ähnlich angelegte Schulprojekte mit Städte- und Landschaftsbildern im direkten Vergleich von gestern und heute umfasst. Petr Mikšíček erzählte von seiner »sudetendeutschen Pilgerfahrt«, so der Titel des Buches, in dem er die Eindrücke dieser Wanderung durch das ehemals von Deutschen bewohnte und von den Ruinen einer Kulturlandschaft geprägte Grenzgebiet der Tschechischen Republik beschreibt. Heute hat es nach Mikšíčeks Auffassung durch die Kontakte zwischen seinen ehemaligen deutschen und den heutigen tschechischen Bewohnern die Chance, den verbindenden Übergangscharakter zu erhalten, der prägend ist für andere Grenzgebiete, die nicht die radikalen Schnitte durch Vertreibung, Neubesiedelung und jahrzehntelange Aufteilung in zwei ideologische Blöcke erlebt haben.
Auch Ústí strebt diese Rolle in der nordböhmischen Grenzregion an. Oberbürgermeister Petr Gandalovič präsentiert den Ort als geschichtsbewusste und offene Stadt, die auch der dunklen Seiten ihrer Vergangenheit gedenkt. 2005 enthüllte er bereits ein Denkmal für die Opfer des Bombenangriffs im April 1945 und eine Tafel zum Gedenken an die Ermordung von mindestens 50 Sudetendeutschen auf der Edvard-Beneš-Brücke, von der sie seinerzeit im Zuge pogromartiger Ausschreitungen in die Elbe geworfen wurden.
Direkt im Anschluss an das Symposium wurde am 9. Oktober 2005 das Holocaust-Mahnmal für die jüdischen Aussiger Bürger, die von den Nationalsozialisten verfolgt und umgebracht wurden, im Stadtpark auf dem Gelände des ehemaligen jüdischen Friedhofs feierlich enthüllt – ein beeindruckender Höhepunkt auch für die Besucher des Symposiums. Der israelische Botschafter in Tschechien Arthur Avnon und der Oberbürgermeister sowie Vertreter der jüdischen Gemeinde von Ústí hielten berührende Reden, in denen sie die Bedeutung der jüdischen Aussiger – darunter die Industriellen Eduard Jakob Weinmann und Ignaz Petschek sowie die Maler Ernst Neuschul und Rudolf Popper – für die wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung der Stadt hervorhoben und an die Verbrechen an ihnen während des »Dritten Reichs« erinnerten. Über tausend jüdische Aussiger Bürger wurden damals von den Nationalsozialisten ermordet. Anlässlich der Enthüllung des Mahnmals veröffentlichten Archiv und Museum der Stadt eine hochinteressante bebilderte Broschüre über die Geschichte der Juden in Aussig.
Den im »Collegium Bohemicum« zusammengeschlossenen Einrichtungen ist wirklich zu wünschen, dass sie in den nächsten Jahren ihre wertvolle Arbeit fortsetzen und weiter professionalisieren können. Zunächst geht es um ein Dach über dem Kopf, also die Restaurierung des Stadtmuseums. Der tschechische Staat hat hierfür bereits 65 Millionen von den benötigten 165 Millionen Kronen zugesagt, weitere Mittel sind bei der EU beantragt. Sicherlich wäre es auch im deutschen und österreichischen Interesse, dass dieses für die Aufarbeitung der schwierigen Beziehungsgeschichte zwischen den beiden Nationalitäten so wichtige europäisch ausgerichtete Forum verwirklicht wird – vielleicht kann die innovative Stadt Ústí nad Labem und ihr aktiver Bürgermeister Petr Gandalovič auch von dieser Seite auf Unterstützung hoffen.