Klaus Harer
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Der Buchtitel, der ein weitgehend unbearbeitetes Thema von durchaus aktuellem Interesse beschreibt, verspricht eine Monographie über die Rolle deutscher Musiker bei der Begründung des Musikhochschulwesens in Russland. Eine solche Monographie ist ein echtes Desiderat, da die russisch-deutschen musikalischen Beziehungen bisher tatsächlich sehr ungenügend erforscht sind. Bedeutende Forschungsanstrengungen der letzen Jahrzehnte in der Literaturwissenschaft, Geschichte, Wissenschaftsgeschichte und anderen kulturwissenschaftlichen Disziplinen bieten einen günstigen Hintergrund, um die vielfältigen personellen und institutionellen Kontakte zwischen der deutschen und der russischen Musikkultur aufzuarbeiten. Leider wird das Buch, so wie es dem deutschen Leser vorliegt, diesen Erwartungen nicht gerecht. Da uns das russische Original (Nemeckie muzykanty v Rossii. K istorii stanovlenija russkich konservatorij. Moskau 1999), auf das im Vorwort verwiesen wird, nicht vorlag, müssen wir die folgenden Ausführungen auf die deutsche Ausgabe beschränken.

Bereits die Überschriften der fünf Kapitel des Buches lassen eine durchdachte monographische Konzeption kaum erwarten.

Das erste Kapitel „Über russlanddeutsche musikalische Kultur“ [!] gibt einen weitgehend unstrukturierten Überblick über Orgeln deutscher Orgelbauer und deutsche Organisten in Russland (S. 25-28), über die Chorkultur der Mennoniten-Gemeinden, dann auch der Lutheraner (29-32), über das deutsche Theater (32-37), über Konzertauftritte deutscher Musiker (37-44) und deutsche Chorvereine (45-46). Es folgt etwas unvermittelt ein Exkurs mit ausführlich zitierten Briefen des Dirigenten Max Erdmannsdörfer an die Russische Musikgesellschaft aus den 1880er Jahren (47-51). Das Kapitel wird durch biographische Notizen über Deutsche im Instrumentenbau (51-54), in Musikverlagen (54-57) und der Musikforschung Russlands abgeschlossen. In seiner Kürze und Disparatheit gibt dieser Teil des Buches keineswegs einen wirklich repräsentativen Überblick über die Rolle deutscher Musiker in der Musikkultur Russlands. Eine Reflexion des komplexen Verhältnisses der deutschen Tradition zu der einheimischen russischen Musikkultur sowie zu konkurrierenden Modellen (etwa italienischen oder französischen, die gleichzeitig in Russland wirkten), fehlt völlig. Der für das Thema zentrale Aspekt der Adaption westeuropäischer kultureller Modelle durch die seit Peter dem Großen in Russland sich entwickelnde hauptstädtische Elite scheint sich dem Autor als Problem gar nicht zu stellen. Die biographischen Skizzen beschränken sich weitgehend auf dienstliche Karrieren einzelner Musiker, die zudem rein formal referiert werden. Die teilweise ausführlich zitierten Quellen (Memoiren, Briefe u.ä.) bleiben unkommentiert und sind ausgesprochen wenig informativ. Zum Thema des Buches (Entstehungsgeschichte der russischen Musikhochschulen) wird kein Zusammenhang hergestellt.

Das zweite Kapitel „Der deutsche Musiklehrer in Russland“ bietet biographische Notizen über deutsche Musiker, die in Russland pädagogisch tätig waren. Hier gilt dasselbe wie beim ersten Kapitel: Die biographischen Daten (die meist nur die formal-dienstliche Karriere der jeweiligen Persönlichkeiten betreffen) bleiben unkommentiert und unreflektiert. Auch hier ist der Zusammenhang zur Entstehungsgeschichte der Hochschulen, obwohl er durchaus nahe liegt, nicht hergestellt.

Das dritte Kapitel ist lakonisch „St. Petersburg“ überschrieben und hat nun wirklich die Entstehungsgeschichte des Petersburger Konservatoriums zum Inhalt. Zur Geschichte des Konservatoriums liegen brauchbare Darstellungen vor (vgl. Nr. 73, 90, 97-99, 156 des Literaturverzeichnisses u.v.m.), Lomtev fügt dem kaum Neues hinzu, er beschränkt sich auf die Aufzählung deutscher Musiker, wobei er auch hier kaum über die kulturologisch relevanten Aspekte des deutschen Anteils an der Petersburger Musikerausbildung reflektiert, sondern sich auf nicht immer relevante Details aus den einzelnen Biographien beschränkt.

Das vierte Kapitel, „Moskau“ überschrieben, skizziert in derselben Weise die Geschichte des Moskauer Konservatoriums. Dies geschieht weit ausführlicher als im Falle Petersburgs (wohl nicht zuletzt, weil Lomtev selbst das Moskauer Konservatorium absolvierte), jedoch inhaltlich und konzeptionell nicht gehaltvoller.

Eingerahmt sind diese Texte durch eine ausführliche Einleitung und ein Schlusskapitel, die der uneinheitlichen Struktur des Buches jedoch nur äußerlich einen kulturhistorischen Rahmen geben. Die Einleitung („Deutsche Patrioten des russischen Reiches“) sollte wohl einen Überblick zur Rolle der Deutschen in der russischen Kultur allgemein geben. Dies gelingt dem Autor jedoch nicht: Wahllos herausgegriffene Zitate aus A. S. Puškin, S. P. Ševyrev und V. V. Veresaev sowie aus keineswegs einschlägigen Quellen zusammengetragene Zufälligkeiten stellen eher die ungenügende Beschäftigung des Autors mit dem Thema unter Beweis, als dass sie einem deutschen Leser grundlegende Auskünfte geben könnten. Völlig unsinnig sind beispielsweise die Einlassungen über russische Bibelübersetzungen (S. 24), die der Autor aus der (offenbar unverstandenen) Sekundärliteratur übernahm. Der „Schluss“ bietet nicht eigentlich eine Zusammenfassung, sondern stellt einfach fest, dass der Anteil deutscher Musiker an der russischen Musikkultur bisher ungenügend ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt wurde. Das zum Thema einschlägige Werk von Ernst Stöckl (Musikgeschichte der Russlanddeutschen. Dülmen 1993) wird hier nur erwähnt, aber keineswegs ausgewertet oder inhaltlich zur Kenntnis genommen. In einem 18 Seiten umfassenden Anhang (der im Inhaltsverzeichnis nicht vermerkt ist) findet sich ein nicht näher bezeichnetes Fragment aus Otto Neitzels in Leipzig gedruckten Erinnerungen sowie „Lehrprogramme deutscher Pädagogen am Moskauer Konservatorium“. Die dürren Texte sind (abgesehen von der schlechten Übersetzung, die den Quellenwert noch mindert) ausgesprochen wenig informativ. Geradezu kurios sind angesichts der Qualität des Buches die panegyrischen „Angaben zum Autor“ aus der Feder des Moskauer Musikwissenschaftlers M. A. Saponov, die das Buch abschließen.

Ist der Originaltext (soweit man von der deutschen Ausgabe auf ihn schließen kann) qualitativ bereits äußerst fragwürdig, so finden sich in der äußeren Präsentation der deutschen Ausgabe Mängel, die den Wert der Publikation noch zusätzlich mindern.

In der Titelei fällt auf, dass weder der Name der Übersetzerin, noch die Tatsache, dass es sich bei dem Buch um eine Übersetzung aus dem Russischen handelt, angegeben ist. (Beides wird beiläufig im Vorwort des Autors erwähnt.) Wer für die Redaktion des Buches verantwortlich zeichnet, geht aus der Titelei ebenfalls nicht hervor. Der entscheidende Mangel des Buches besteht jedoch darin, dass überhaupt weder eine fachliche noch eine sprachliche Redaktion feststellbar ist. Dies wäre jedoch ausgesprochen wichtig gewesen, da die Übersetzerin dem Text weder sprachlich noch inhaltlich gewachsen zu sein scheint.

Stellenweise ist der Text einfach unsinnig bzw. unverständlich. Dafür mögen zwei Beispiele genügen: „Dieser leuchtende, aber kurze Aufstieg der deutschen Truppe in Moskau beschrieb 1804 Stepan Petrovič Žicharev“ (34). Über Palschaus Klaviervariationen heißt es: „Diese Variationen brachten in die vaterländische Klavierkunst die fehlende Virtuosität zusammen mit der traditionellen Benutzung aller Registermöglichkeiten des Instruments und der polyphonen Methoden.“ (41)

Wenn eine Sängerin „in der Rolle der Zarin in der Zauberflöte“ auftritt (34), wenn es heißt, Johann Josef Armsheimer habe bei V. V. Wurm (der ein bedeutender Lehrer für Blechblasinstrumente war) „Klarinette“ gelernt, wenn nicht existente oder unpassende Begriffe wie „Sacrée musicale“ (28), „Kirchendiener“ (im Sinne von „Kleriker“, S. 25), „Sängerklasse“ (anstelle von „Gesangsklasse“ 38), „Migranten“, „Übersiedler“ (bezogen auf die Russlanddeutschen des 18. und 19. Jahrhunderts), „majestätische Erlaubnis“ (gemeint ist „kaiserliche Erlaubnis“, S. 125), „Damenlehranstalt“ (gemeint ist wohl „Mädchenschule“, S. 95), „Paulsbahnhof“ (gemeint ist der Pavlovsker Bahnhof, S. 118) u.ä. gehäuft auftreten, hätte ein Redakteur doch Konsequenzen ziehen müssen. Für eine musikwissenschaftliche Publikation sind terminologische Fehler wie „zweifache“ und „dreifache Zungentechnik“ (119) anstelle von „Doppel- und Tripelzunge“ oder „Transport“ (191) anstelle von „Transposition“ recht peinlich. Jacob Stählin war Mitglied der Historischen Akademie in Göttingen (nicht des „Göttinger historischen Instituts“) und der Leipziger „Deutschen Gesellschaft“ (nicht des „Leipziger Vereins der freien Wissenschaften“) (60). Solche groben Fehler – und das Buch ist voll davon – wären einem Redakteur oder Lektor aufgefallen. Inhaltliche Widersprüche in dem Buch sind nicht immer eindeutig dem Autor oder der Übersetzerin zuzuschreiben. So heißt es in dem kurzen Absatz über die Walcker-Orgeln in Petersburg: Eine Walcker-Orgel von 1841 besitze die „Peter-und-Paul-Kirche auf dem Nevskij prospekt“ (S. 27), außerdem ist die Rede von einer großen Walcker-Orgel in der „Kathedrale des Heiligen Petrus auf dem Nevskij prospekt“ (25), und drittens gibt es noch die evangelische St.-Petri-Kirche, ebenfalls auf dem Nevskij (!?). Der Flötist Wilhelm Kretschmann hat in Russland nicht das „böhmische Lehrsystem des Flötenunterrichts“ eingeführt, wie auf S. 50 vermerkt, sondern die von Theobald Böhm entwickelte sog. Böhmflöte aus Metall und mit verbesserter Klappentechnik! Das Buch ist voll von solchen Ungereimtheiten, die, mögen sie dem Autor oder Übersetzerin zuzuschreiben sein, doch einem Redakteur auffallen müssen. Die zahlreichen Druckfehler (angesichts derer der kleine Errata-Zettel unfreiwillig komisch wirkt) und das unprofessionelle Layout machen weder dem Verlag noch den Herausgebern der Edition IME Ehre.

Ausgesprochen bedauerlich ist jedoch die Tatsache, dass ein überaus wichtiges und kulturpolitisch aktuelles Thema in einer so wenig überzeugenden Publikation „erledigt“ wurde. Dass dies gleich zweimal mit öffentlichen Mitteln geschah (die russische Ausgabe wurde von der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Russland, die deutsche vom BKM und dem Land Nordrhein-Westfalen finanziert), macht die Angelegenheit noch schlimmer.

Eine Kurzfassung dieses Buches erschien unter dem eigenartigen Titel An der Quelle. Deutsche Musiker in Russland. Zur Entstehungsgeschichte der russischen Konservatorien (Lage-Hörste: BMV Verlag Robert Burau, 2002. 142 S.). Das Buch ist analog der „wissenschaftlichen“ Variante der Edition IME aufgebaut. Die Kürzungen betreffen die ohnehin wenig einleuchtenden und redundanten Detailinformationen über die Dienstkarrieren deutscher Musiker. Immerhin wurden die peinlichsten Fehler bereinigt. Damit ist das Buch immerhin lesbarer, wenn auch nicht lesenswerter, geworden.

Lomtev, Denis: Deutsche Musiker in Russland. Zur Geschichte der Entstehung der russischen Konservatorien. Sinzig: studio, 2002. 222 S. (Edition IME; 6)