Auszeichnung für das Werk Taghaus Nachthaus
Tanja Krombach

Am 25. Juni 2002 fand im Alten Museum Berlin die feierliche Übergabe des Literaturpreises der BHF-Bank-Stiftung statt. Olga Tokarczuk und Esther Kinsky wurden für das Werk Taghaus Nachthaus ausgezeichnet.

Der Fokus des Preises „Brücke Berlin“ liegt auf der zeitgenössischen Literatur Mittel- und Osteuropas und ihrer Übersetzung ins Deutsche – sein Name verweist auf die Bedeutung Berlins als Drehscheibe zwischen Ost und West. Die Jury besteht aus dem Schriftsteller Friedrich Christian Delius, der Literaturkritikerin Katharina Döbler, dem Präsidenten der Stiftung Preußischer Kulturbesitz Prof. Klaus-Dieter Lehmann sowie der Journalistin Eva Menasse.

Zur Preisverleihung sprach Günter Grass, der Schirmherr der Veranstaltung. Er betonte die Bedeutung der öffentlichen Anerkennung für Übersetzer und ihrer für die Kulturvermittlung zwischen den Völkern so wichtigen Arbeit.

Katharina Döbler hielt die Laudatio, in der sie unter anderem folgende Aspekte des Werkes Taghaus Nachthaus hervorhob: „Es ist ein vielstimmiges und vielschichtiges Buch, mehr ein Chorwerk als eine linearer Erzählung; Mosaik einer Landschaft bei verschiedenen Beleuchtungen und zu verschiedenen Zeiten, gesehen durch verschiedene Augen, vorgetragen von verschiedenen Stimmen. Esther Kinsky hat es in ein Deutsch übertragen, in dem jede einzelne Stimme noch zu hören ist, mit ihren Untertönen und ihrem Zittern, ihrem Dröhnen manchmal oder ihrem Stottern. [...]

Der Landstrich, um den es geht, Grenzland von jeher, gehörte zu verschiedenen Ländern und Reichen, war böhmisch, habsburgisch, preußisch und polnisch. Er heißt Ziemia Klodzka, auf Deutsch Glatzer Land. Nach Tschechien sind es nur ein paar Kilometer. Es ist ein Landstrich wie er typisch ist für Mitteleuropa: hineingezogen in das, was ein bekannter Galizier ,die Sintflut der Geschichte’ nannte; darin herumgewirbelt, nach Krieg und Vertreibung ein Geisterland mit leeren Häusern, in denen noch die Noten auf dem Klavier und die Servietten mit Monogramm im Schrank lagen. Bis die neuen Bewohner kamen, aus Galizien, aus Podolien, aus den zerstörten Städten Polens, und diese Gebiete, die sie ‚po niemieckie’, die ‚nachdeutschen’ nannten, zu bewohnen begannen, stets begleitet vom Gefühl des Fremdseins. So wie die Eltern von Olga Tokarczuk, deren Vater aus Galizien stammt und die in Zielona Góra, in Grünberg, geboren wurde. Eine rätselhafte Gegend für ein Kind. Die kleine Olga glaubte, Grabsteine auf Friedhöfen seien immer in einer anderen Sprache beschriftet – nämlich Deutsch. [...]

Mit der Vergabe des Preises ,Brücke Berlin' an Olga Tokarczuk und Esther Kinsky bedanken wir uns auch für die Erweiterung unseres eigenen Geschichtsbildes. Denn auch für meine Generation war Schlesien eine Nicht-Gegend, die im Schulatlas rot schraffiert war und außerhalb jeder Wirklichkeit zu existieren schien, als Schimäre eines ewigen Gestern und dessen Bewohnern. Nun haben wir sie zurückbekommen, die rote Schraffur, nicht in der Form verbürgter Geschichte, mit Zahlen und anderen Rahmendaten der so genannten Wirklichkeit, sondern als Geschichten, als Geflecht von Überlieferungen und Legenden, Wahrheiten und Halbwahrheiten, Irrlichtern und Hirngespinsten. Als Literatur.“

Olga Tokarczuk wies in ihrer Dankesrede darauf hin, dass sie zu Beginn nur den Ort, an dem sie lebte, beschreiben wollte. Doch erst als sie die Zeit, die Gegenwart und die Vergangenheit, in ihre Darstellung einbezog, erwachte er zum Leben. Das Buch sei der Versuch, einen Gründungsmythos zu schaffen – für sie und die anderen Bewohner, die immer noch Neuankömmlinge in Niederschlesien seien. Die Befürchtung, dass ihre ganz eigene polnische Prosa in andere Sprachen nicht übertragbar sei, habe ihr die Arbeit von Esther Kinsky schnell genommen.