Ein Blick in das Fotoalbum einer berühmten Familie. Eine Austellungsbesprechung von Ingeborg Szöllösi
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Wen wundert’s, dass sich der Schriftsteller, der exemplarisch für die existenzielle Unbehaustheit des Menschen steht, ungern fotografieren ließ! Als ihn seine Berliner Freundin Felice Bauer um Fotos bat, zögerte er: »Vorläufig Liebste schicke ich Dir keine Photographie. (…) weil ich Angst bekommen habe, daß ich auf allen, ohne Schuld und ohne Richtigkeit, ein wenig merkwürdig ausschaue.« (Brief vom 18./19. Dezember 1912)

Trotzdem wagt die beeindruckende Ausstellung Das Fotoalbum der Familie Kafka in Berlin genau dies: sich dem großen Einsamen Franz Kafka über Fotografien zu nähern. Das Stabi Kulturwerk präsentiert anlässlich des 100. Todestag des Schriftstellers in neun Kapiteln mit lehrreichen, deutsch- bzw. englischsprachigen Informationstafeln und mit rund 130 Fotografien das Porträt einer weit verzweigten Familie. Kurator Hans-Gerd Koch, Mitherausgeber der Kritischen Kafka-Ausgabe und Herausgeber des Bands Kafkas Familie. Ein Fotoalbum im Wagenbach Verlag hebt hervor, die Ausstellung wolle nicht nur die Herkunft eines berühmten Autors der Weltliteratur, sondern insbesondere die Emanzipationsgeschichte und Weltläufigkeit einer jüdischen Familie zwischen Habsburgermonarchie und Erster Tschechoslowakischer Republik beleuchten. Franz Kafka sei mit seiner Familie verbundener gewesen, als sein schriftstellerisches Werk vermuten ließe, so Koch. Das bezeugen einige wenige Zeilen von Dora Diamant, Kafkas Freundin, die in seinen letzten Sanatorium-Tagen im niederösterreichischen Kierling an seiner Seite war. In einer Nachschrift zu Franz’ letztem Brief an seine Eltern bat sie seine Eltern, sie mögen von ihrem Leben in Prag berichten, Franz »giere so sehr nach Neuigkeiten von ihnen«. Am 2. Juni 1924 schrieb er den Eltern, ihm sei ihr Besuch »eine sehr wichtige Sache«. Doch einen Tag später, am 3. Juni, erlag er seiner heimtückischen Krankheit, der Tuberkulose.

Was Kurator Koch ebenfalls betonte: Franz Kafka sei »der Mittelpunkt der Familie« gewesen, sie habe reges Interesse an ihm gehabt. Das bezeugen in der Tat zahlreiche Fotos von Kuraufenthalten und gemeinsam verbrachten Ferien. Diesen Gruppenfotos konnte sich der Sonderling wohl kaum entziehen. Doch drängt sich die Frage auf, wie der berühmte, nie abgeschickte Brief an den Vater zustande kam, wenn die familiären Verhältnisse so harmonisch gewesen sein sollen. Kochs Vermutung: Franz Kafka habe »das Negative gesammelt, um Distanz zur Familie herzustellen«. Könnte es sein, dass zu viel Verbundenheit und Zusammenhalt auf einen Autor eher blockierend als inspirierend wirken? Wer mag das schon entscheiden.

Was sich eindeutig anhand des »Familienalbums« feststellen lässt, ist der gesellschaftliche Aufstieg der Kaufmannsfamilie: Während sich das Unbehagen der Großeltern Jakob und Franziska Kafka (väterlicherseits) sowie Esther und Jakob Löwy (mütterlicherseits) von den im 19. Jahrhundert entstandenen Fotos förmlich ablesen lässt, blicken die Eltern Hermann und Julie Kafka sowie deren Kinder und Enkelkinder ungezwungen, heiter bis fröhlich in die Kamera – die Zukunft stand ihnen offen. Anfang des 20. Jahrhunderts hatten die Kafkas jeden Grund, voller Zuversicht und Optimismus dem morgigen Tag entgegenzublicken. Im Jahr 1910 schloss Franz Kafkas Schwester Elli den Bund der Ehe mit dem Handelsagenten Karl Hermann. Bereits 1911 gründete Hermann mit seinem Schwager Franz Kafka und unter finanzieller Beteiligung des Schwiegervaters Hermann Kafka sowie des Onkels Alfred Löwy die Prager Asbestwerke Hermann & Co. Vater Kafka war stolz auf seinen Schwiegersohn Karl und hoffte wohl insgeheim, dass dieser seinen Sohn Franz mit seinem Geschäftssinn anstecken würde. Auch wenn dies nicht gelang, war Karl, der erfolgreiche Geschäftsmann, für Franz bis zu seinem frühen Tod eine große Unterstützung.

Die Erfolgsgeschichte nahm jedoch ein jähes Ende – der Zweite Weltkrieg mit seiner Vernichtungswalze begrub Mensch und Werk unter sich. Wie viele Verwandte von Franz Kafka in NS-Vernichtungslager deportiert wurden und dort ums Leben kamen, zeigt der Stammbaum der Großfamilie, der die Ausstellung abrundet. Die drei Schwestern Franz Kafkas, Elli, Valli und Ottla, starben 1942/43 in Konzentrationslagern. An diese düstere Zeit sowie an die Nachkriegszeit während der kommunistischen Diktatur erinnert eine in die Ausstellung eingebaute Filmdokumentation: ein Interview mit Marianne Pollak, Tochter von Franz Kafkas Schwester Valli, in London, wohin ihr an der Seite ihres Ehemanns Georg Steiner zweimal die Flucht gelang – 1939 und 1948.

Am Sonntag, 2. Juni 2024, 11 Uhr wird anlässlich der Finissage der von Hans-Gerd Koch und Clemens Schmiedbauer produzierte Film Kafkas letzte Reise präsentiert: »Der Film verfolgt die letzten Lebensstationen Franz Kafkas von Prag ins Sanatorium Wienerwald bei Pernitz, weiter in die Laryngologische Universitätsklinik Wien und zur letzten Station, dem Sanatorium Dr. Hermann in Kierling bei Klosterneuburg. Mit Briefen, Dokumenten und Interviews wird die verzweifelte Suche des an Tuberkulose Erkrankten nach Besserung nachgezeichnet.«


Der Eintritt in die Ausstellung sowie die Teilnahme an der Filmvorführung sind kostenfrei. Eine Anmeldung zur Finissage ist ab Ende März 2024 erforderlich unter: https://blog.sbb.berlin/termine/#veranstaltungen