Rezension. Jaroslav Rudiš: <i>Winterbergs letzte Reise</i>
Von Ingeborg Szöllösi
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Kulturkorrespondenz östliches Europa, № 1403 | Mai 2019

Er zieht von Land zu Land, von Stadt zu Stadt, von Haus zu Haus. Einen Arbeitsplatz findet er immer, denn er wird gebraucht. Jan Kraus begleitet schwerkranke Menschen auf ihrem letzten Weg. Die Überfahrt schafft kaum einer ohne Begleitung und Soldaten der Armee der letzten Hoffnung gibt es nicht viele. Mit Wenzel Winterberg verspricht sich Jan eine schnelle Überfahrt. Es kommt anders: Wenzel kehrt als einziger Matrose ins Leben zurück. Besser als alle Ärzte kennt der 99-Jährige seine Krankheit: „»Die Schlacht bei Königgrätz geht durch mein Herz.« Von dieser Krankheit kann er nur geheilt werden, wenn er seinem Königgrätz – in Echtzeit – begegnet. Dorthin begleitet ihn sein Pfleger.

Zwei Menschen – ein junger und ein alter – irren über 544 Buchseiten von einem Ort zum anderen. Für den jungen ist die Reise eine Erfahrungs- und Entdeckungsreise, für den alten eine Hochzeits- und Beerdigungsreise. Winterbergs verstorbene Geliebte Lenke Morgenstern ist der innere, der Baedeker »Österreich-Ungarn« von 1913 der äußere Kompass. Letzterer ist ein Handbuch für Reisende, die mit Carfiol, Paradeisäpfel und Kren etwas anzufangen wissen. Mitteleuropa – diese wunderschöne Landschaft der Schlachtfelder, Friedhöfe und Ruinen, die so wahr wie schön und traurig ist – will Winterberg erkunden. Reichenberg in Böhmen, Winterbergs Geburtsort, gehört dazu. Als Eisenbahnmensch kann er sich die Reise nur auf Schienen vorstellen. Pfleger Jan, der aus dem Ort Winterberg (sic!) in Böhmen kommt, folgt seinem Patienten und erträgt – mit viel Bier und noch viel mehr Zigaretten – dessen historische Anfälle, bis er selbst einen Anfall – einen physischen – erleidet und im Krankenhaus landet.

Doch selbst diese harte Zäsur trennt die beiden Protagonisten nicht: Ähnlich wie Becketts Figuren Hamm und Clov haben sich die beiden auf ein Endspiel eingelassen. Jan und Wenzel bleiben bis zum bitteren Ende ihrer Reise zusammen. Sarajevo heißt das Reiseziel, doch Peenemünde wird der Ort der Ankunft sein. Letzterer bringt zwar keine Erlösung, aber eine Einsicht: Nur wer sein persönliches Königgrätz erlebt, kann sterben. Um den Tod geht es. Immer. Und dass es aus dieser Geschichte kein Entkommen gibt, stimmt zwar ein wenig melancholisch, aber auch zuversichtlich: Rudiš’ Werk wird früher oder später die Bühne erobern, denn es ist eher Theaterstück als Roman.

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