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Swesda 9/2004

Swesda (Der Stern) № 9 • 01.09.2004. Den russischen Originaltext finden Sie hier.

Ganz neu war mir eine wissenschaftliche Tatsache, die der Forschungseifer der Menschheit unwiderleglich nachweisen konnte: Wenn man Frösche in heißes Wasser wirft, springen sie gleich heraus, d.h. sie haben eine Überlebenschance, was übrigens vom Durchmesser des Kessels abhängt. Wenn man aber das Wasser langsam erhitzt, dann gehen alle Frösche ein, wobei die Agonie so qualvoll ist, dass sie für den Naturforscher wahrscheinlich besonders interessant erscheint.

Vielleicht ist das auch für Sie, lieber Leser, neu. Hitler jedenfalls war es bekannt. Die Analytiker der Gestapo waren über den aktuellen Wissensstand informiert.

Der von ihnen gewählte Weg zur reellen und konkreten Endlösung eines bekannten Problems könnte uns künstlich verlängert erscheinen, absurd kleinschrittig. Anstatt alle auf einmal zu sammmeln und zu verbrennen, wurde für einige Jahre eine Art Rechtsstaat entwickelt: Ein Gesetz hierzu, ein Gesetz dazu, kleinlich wurden alle Felder abgedeckt.

Stempel im Personalausweis, Mischehen, große jüdische Vermögen, kleine jüdische Besitztümer, Wohnraum. Für alles gab es Gesetze, alles lief restlos nach Gesetzen, und solange das nächste Gesetz nicht in Kraft trat, war alles, was nicht durch das vorhergehende verboten war, sozusagen erlaubt. Unterricht geben ist verboten, aber lernen – warum nicht, macht ruhig weiter. Obwohl: Bibliotheken durfte man nicht besuchen, in der Öffentlichkeit nicht lesen, und keine Bücher zu Hause haben. Der Unterricht war zum Zeitpunkt dieses Verbotes auch nicht mehr erlaubt.

Das Tempo war zügig, aber die Konsequenz der Gesetzesvorhaben blieb mit Absicht im Dunkeln. … Der Staat verlor sich immer wieder in Kleinigkeiten, dem gerechten Bürgerzorn und dem natürlichen Ekel nachgebend. Man vergaß nicht, den Juden das Kaufen von Zigarren zu verbieten! Und von Zigaretten! Dass sie nicht auf der Straße rauchten. Dass sie überhaupt nicht rauchten, bei Todesstrafe. Dass sie nicht auf den Bürgersteigen gingen! Und nicht auf Parkbänken saßen! Dass sie keine Haustiere hielten! Dass sie kein Eis aßen! Und dass sie in Bäckereien kein Gebäck und keinen Kuchen verkauft bekamen!

Das Wasser wurde immer heißer und heißer: das einzige Recht der Juden – gleichzeitig auch eine Pflicht – war es einen gelben Stern auf der Kleidung zu tragen. Jede Sympathiebekundung gegenüber einem Menschen mit gelbem Stern war strafbar. Und jetzt (erst jetzt!) war die Zeit gekommen, die Emigration zu unterbinden und die Gaskammern anlaufen zu lassen. Genau dieses Tempo hat sich als optimal erwiesen, die wichtigsten psychologischen Prozesse liefen wie am Schnürchen.

Stellen Sie sich nun einen um 1928 geborenen Königsberger Jungen vor, aus einer gebildeten jüdschen Familie (sein Vater war übrigens Arier), der mit Schiller, Beethoven etc. erzogen wurde. Verliebt in die deutsche Natur (Kiefern und Dünen auf der Kurischen Nehrung), in die eigene, altertümliche, märchenhaft schöne Stadt. Was denken Sie: wird er sein Land, sein Deutschland dafür hassen, dass es ihm Gebäck und Kuchen vorenthielt, oder dafür, dass es dem alten Lehrer den Kanarienvogel wegnahm? Dass es ihm verbot Fahrrad zu fahren und auf der Geige zu spielen? Oder dafür, dass es Tante Fanny mit Gepäck auf den Bahnhof einbestellte und sie in unbekannte Richtung abtransportierte?

Er wird es nicht hassen. Noch nicht einmal weniger lieben. Michael Wiecks Buch ist wirklich, wie Siegfried Lenz es ausdrückt, ein erschütterndes Buch.

Er beschreibt unerträgliche Erlebnisse – und zwar buchstäblich, denn diese Erlebnisse hat sonst kaum jemand überlebt. Als Jude in Nazi-Deutschland, als Deutscher im okkupierten sowjetischen Königsberg zu überleben, die Eltern aus diesen ständigen Todesgefahren und den unerhörten Grausamkeiten zu retten – die Geschichte dieses Jungen lässt die gesamte Abenteuerliteratur der Welt verblassen. (Man sollte diese Geschichte in der Schule durchnehmen – aber die Pädagogen werden das nicht zulassen: was z.B. die Befreier Ostpreußens mit den deutschen Frauen angerichtet haben, ist nichts für Schulkinder).

Michael Wieck erleichtert sich nicht einfach von seinen leidvollen Erinnerungen. Und er beklagt sich auch nicht, belehrt nicht, beschuldigt und verachtet niemanden (außer vielleicht die Theoretiker der Rassenauslese). Ohne etwas zu rechtfertigen, versteht er die Motive aller beobachteten Verbrechen.

In dieser Weise gehen Visionäre mit mystischer Erfahrung um: Michael Wieck war es gegeben, auf die Schattenseite der sogenannten menschlichen Realität zu blicken. Als hätte jemand den seelenvollen und begabten reinen Jüngling auserwählt, damit gerade er sich mit eigenen Augen davon überzeugte, wie gemein und grausam der Mensch sein kann – jeder Mensch, jeder von uns – und davon, wie tief wir fallen können, wenn wir nur in bestimmte Verhältnisse und Umstände versetzt werden.

Der Jüngling hat sich das gemerkt. Und er leidet seitdem daran: die so genannte Realität flimmert in seinen Augen wie erhitzte Luft.

Einmal, in einer besonders schrecklichen Minute, schwört er: wenn er trotz allem errettet würde, wolle er bis zum Ende seines Lebens dankbar sein und glücklich und mit allem zufrieden. Glücklich wurde er wirklich. Dankbar auch. Den dritten Teil des Schwurs konnte er nicht erfüllen. »Wohl niemals mehr wird die Erregung und das Herzklopfen verschwinden, wenn da irgendwo von ›Juden‹ geredet wird …«

Wüssten Sie nur, was das für ein tiefsinniges Buch ist! Grundehrlich und unendlich traurig. In gewissem Sinne ist es einzig auf der Welt, und zwar deshalb, weil es sich vor dem Hass scheut, sich einfach dazu nicht herablassen kann.

Sie werden sagen: wie – einzig? Das ist doch übertrieben. Immerhin gab es Jesus, Franz von Assisi, Spinoza. Das ist sicher von mir ein bisschen hochgegriffen. An Michael Wiecks Stelle hätten sich die genannten sicher kaum schlechter gehalten, und Spinoza konnte dazu noch unvergleichlich schreiben. Im Gegensatz zu ihnen hatte Michael Wieck aber ein Material von neuer Qualität zu verarbeiten.

Und doch, Sie werden mir da zustimmen, ist es ein äußerst seltener Charakterzug – die Unfähigkeit zu geistiger Abstumpfung, die das Böse mit seinen Akteuren identifiziert. Betrachtet man es so, so ist Wiecks Gegenstand ein metaphysischer: Der Hass versuchte ihn mit allen seinen Mitteln; aber die schleimige Spinne, in welche Fahne sie sich auch hüllte, konnte den klugen Knaben aus Königsberg nicht verführen, nicht verderben.

Nur Königsberg gibt es nun nicht mehr, und überhaupt bleibt nur ein Trost: »Meine Beobachtungen sterbender Menschen vermittelten mir die Gewissheit, dass sie alle ihren Tod als Erlösung empfunden haben. Deshalb ist der Tod für mich eine positive Realität – die am Ende jeden aufnehmenden offenen Arme. [...] Der Tod müsste als großer Trost im Bewusstsein der Menschen weilen, als das mit Gewissheit Ruhe und Frieden bringende Ende.«

Und die fundamentale wissenschaftliche Tatsache – die aus dem Leben der Frösche – interessiert eigentlich keinen.