Roswitha Schieb
Alexis Willibald, Holzschnitt von Adolf Neumann von 1872. <small>Bildrechte: ©WikimediaCommons </small>

Als Theodor Fontane 1872 einen Aufsatz über Willibald Alexis veröffentlichte, pries er diesen als »ganz große Nummer« und sein geistesverwandtes Vorbild. Tatsächlich ist Fontane ohne Alexis‘ historische Romane kaum zu denken. Wer ist dieser Willibald Alexis, der heute – sehr zu Unrecht – nahezu vergessen ist? Als Begründer des deutschen realistischen historischen Romans widmete er sich mit seinem gesamten Œuvre dem Thema Preußen, seinem Aufstieg und seinem Niedergang.

Hugenottischen Ursprungs, unter dem Namen Georg Wilhelm Häring 1798 in Breslau geboren, lebte Alexis seit seiner Jugend in Berlin, wo er zu schreiben begann. Mit seinen vaterländischen Romanen legte Alexis wie in Jahrhundertringen vom 14. bis zum frühen 19. Jahrhundert einen Abschnitt märkischer Geschichte um den anderen, die er zur großen Reichsgeschichte umzuwidmen versuchte. Damit wertete er Berlin und Brandenburg als pars pro toto für das erneuerungsbedürftige Vaterland auf. Sein früher Roman Cabanis (1832) beginnt 1740 mit der Inthronisierung Friedrichs II. als König von Preußen. Es ist ein Roman, der die »fritzische« Gesinnung der Toleranz, des Aufschwungs und der Bildung gegenüber dem um 1830 herrschenden Geist der Reaktion verherrlicht. Fontane hält den ersten Band von Cabanis für höchst geeignet, die soldatisch geprägte Borniertheit und Steifheit der Gesellschaft in der ausgehenden Ära des Soldatenkönigs zu studieren.

Alexis‘ über tausend Seiten starker Roman Ruhe ist die erste Bürgerpflicht (1852) spielt in den Jahren des Niedergangs Preußens zwischen 1804 und 1806. Anders als in Cabanis gerät der König, der zuvor noch »Friedrich der Einzige hieß, in die Kritik, habe er doch eine Staatsmaschinerie mit »geschulten Puppen« hinterlassen. Der Roman endet mit der Flucht »des guten Königs« Friedrich Wilhelm III. und Königin Luises vor Napoleon aus Berlin in Richtung Königsberg. Gleichzeitig entrollt der Roman ein großartiges Berlin-Panorama. Er bewegt sich nicht nur in den besten Kreisen der Gesellschaft, sondern spielt auch in finsteren Treppenhäusern, in Bordellen und Schenken, am Hinrichtungsplatz, auf dem Fischmarkt, in dunklen Straßen, und zwischen Obsthökerinnen. Bei der Schilderung der halböffentlichen Salons, die Fontane als »Sammelplatz vornehmer Roués« bezeichnet und die sich als Orte von Exzessen, Prostitution und Verbrechen  entpuppen, erweist sich Alexis als ein Meister der teils grellen, teils desillusionierend-ironischen Darstellungen.

Adolph Menzel, Terrasse von Sanssouci,1840/1842, Holzschnitt <small> Abbildung aus Franz Kugler: Geschichte Friedrichs des Großen. Gezeichnet von Adolph Menzel. Leipziug, Nachdruck der Ausgabe von 1840, S.608 </small>

Die Mark als Inspiration

Die Fortsetzung dieses Romans schuf Alexis mit Isegrimm (1854), der den Zeitraum von 1806 bis 1815 umfasst. Alexis verlässt hier die Berliner Gesellschaft und lässt die historischen Ereignisse auf dem märkischen Land, fern des Hofes spielen. Den Landadel zeichnet Alexis in seiner knorrigen Originalität. Ihm ist ein ähnlich karger Heroismus zu eigen wie der Landschaft, deren Schilderung einen großen Platz einnimmt. Die struppige Mark Brandenburg mit ihren Sandnestern und Sumpflöchern wird zum Spiegel patriotischer Widerständigkeit. Alexis ist ihr großer Porträtist. Trotz eines teilweise schwerfälligen Stils, der laut Fontane wirkt, als führe »eine Staatskarosse durch den märkischen Sand«, wird Alexis zu einem poetischen »Stimmungslandschaftler«, der ein märkisches Luch, das rote Abendlicht auf Kiefernstämmen, den Spiegel eines Sees, die märkische Steppe, das Land und seine Bewohner atmosphärisch wie kaum ein zweiter zu schildern vermochte.

Erst mit knapp 60 Jahren begann Theodor Fontane sein berühmtes Romanœuvre zu verfassen, das ihn zum bedeutendsten Vertreter des Realismus machte. Schon sein Romanerstling von 1878 Vor dem Sturm. Roman aus dem Winter 1812 auf 13 wurde stark von Alexis‘ Roman Isegrimm angeregt, der dieselbe Zeit vor den Befreiungskriegen in einer widerborstigen Zentralfigur aus dem märkischen Landadel spiegelt. Doch lässt Fontane durch seinen leichten, elegant-andeutungshaften und ironischen Erzählton die behäbige, nach allen Seiten hin ausgewalzte Erzählweise von Alexis weit hinter sich.

Märkische Wanderungen mit Fundamenten von Alexis

Auch Fontanes vergnügliches Gedicht Havelland, das märkische Ortsnamen spielerisch zu einem klangvollen Reigen zusammenbindet, wurde von Alexis‘ Roman Isegrimm inspiriert: hier findet sich nämlich die »Märkische Iliade«, ein langes, mit Ortsnamen spielendes Poem. Heißt es bei Alexis :»…Kyritz, Pyritz, Damlack, Lietzen, / Friesack, Wilsnack, Beelitz, Wrietzen, / Lüderitzen, Köckeritzen, / Kikebusch und Treuenbrietzen…«, so lautet Fontanes echohafte Weiterführung: »…Zachow, Wachow und Groß-Bähnitz, / Marquardt-Ütz an Wublitz-Schlänitz, / Senzke, Lenzke und Marzahne, / Lietzow, Tietzow und Rekahne, …« Auch ein weiteres Gedicht Fontanes Auf der Treppe von Sanssouci, 1885 Adolph Menzel zu dessen siebzigstem Geburtstag gewidmet, ist deutlich von Alexis beeinflusst. In diesem Gedicht trifft ein Fontane angeähneltes lyrisches Ich auf den Terrassen von Sanssouci mit einem ebenso ätherischen wie schroffen Friedrich II. zusammen, der ihn über Menzel ausfragt und ihm ausrichten lässt, er habe ihm bereits einen Platz in seinem Elysium reserviert. Das Vorbild dieser Fiktion, auf den Treppen von Schloss Sansouci mit Friedrich dem Großen zusammenzutreffen, findet sich in epischer Breite in Alexis‘ Roman Ruhe ist die erste Bürgerpflicht, eine eindrucksvolle Verlebendigung des längst verstorbenen Königs. Ohne diesen behäbig-dickleibigen Roman von Alexis ist auch Fontanes Roman Schach von Wuthenow nicht denkbar, gebrauchte Fontane ihn doch motivisch und historisch als Steinbruch für seinen eigenen schmalen, kunstvollen Roman. 

Mit seinem Roman L’Adultera (1882) verlässt Fontane die Schilderung der Vergangenheit, damit auch sein großes Vorbild Alexis und eröffnet den Reigen seiner Berliner Gesellschaftsromane. Zwar hatte auch Alexis einmal versucht, sich mit seinem Roman Zwölf Nächte (1838) der Jetztzeit zuzuwenden, also der beginnenden Industrialisierung, der Großstadt und den Arbeitern als neuer sozialer Schicht, sich aber nach diesem Versuch sofort wieder in die Historie zurückgezogen. Fontane nun spießt in seinen meist in Berlin spielenden Zeit-Romanen die Enge der Standesgesellschaft und der Doppelmoral immer wieder kritisch, aber mit feiner Ironie und impressionistischer Leichtigkeit auf.

An Fontanes Hauptwerk Der Stechlin (1899), diesem Meisterstück des poetischen Realismus, lässt sich ablesen, wie weit Fontane Alexis hinter sich gelassen hat. Der Roman spielt zu einem großen Teil auf dem Landsitz am Stechlinsee. Aber es wird deutlich, dass es für Fontane, anders als für Alexis, reine Landschaftsschilderungen nicht gibt. Bereits in seinen früheren Romanen dienen Ausflüge ins Grüne zumeist der Kulmination der Handlung. da sich mit Aufenthalt in Natur und Landschaft das gesellschaftliche Korsett der Figuren lockert. Fontane zeigt nie die leere, quasi abstrakte, ruisdaelische Landschaft, sondern die von Menschenhand gemachte, kultivierte, mit Geschichtlichem und Geschichten geradezu getränkte Umgebung.

Auch in seinen Wanderungen durch die Mark Brandenburg sieht Fontane einem Fluss die Torfkähne an, die er in seinem späteren Verlauf tragen muss, oder die Liebesgeschichte zwischen einem Kronprinzen und einem Förstersmädchen, er sieht einem Forst an, inwieweit er »durch die Berliner Schornsteine geflogen« ist oder fliegen wird. Am liebsten aber ist es Fontane, wenn die Landschaft selbst Geschichten erzählt. Daher rührt sein großes Faible für den Stechlinsee mit seiner Geschichte vom roten Hahn und seinen weltweiten vulkanischen Verbindungen. Fontane löst der Natur die Zunge, erzählt an ihrer statt Geschichten und erlöst sie von ihrer Stummheit.

Mit den Berlin- und Brandenburg-Facetten all seiner Romane schuf Fontane ein subtiles topographisches, geistig-gesellschaftliches und atmosphärisches Tableau der deutschen Hauptstadt und ihrer Umgebung gegen Ende des 19. Jahrhunderts, so dass Erich Kästner sagen konnte: Fontane »schenkte uns die Stadt an der Spree«. Man kann getrost hinzufügen, dass es eine Stadt ist, die sich auf den literarischen Fundamenten von Willibald Alexis erhebt.