Seit dem ersten Kriegsmorgen hält uns der preisgekrönte Übersetzer Juri Durkot aus Lemberg über die Lage in der Ukraine auf dem Laufenden. Heute versucht er, mithilfe von exemplarischen Lebensläufen das 20. Jahrhundert zu entwirren.
Die Welt, 23.11.2023

Von Juri Durkot

[…] Doch was die Geschichte Osteuropas so kompliziert macht, ist die Tatsache, dass es immer wieder zum Spielball in den Händen der Großmächte wurde. Unser Stadtführer in Uschhorod erzählte uns von seiner Urgroßmutter, die in neun verschiedenen Staaten gelebt hatte, ohne ihre Heimatstadt jemals verlasen zu haben: Geboren 1913 kaum zwei Dutzend Kilometer nördlich von Uschhorod in der Kleinstadt Peretschyn im ungarischen Teil des Habsburger Reiches, wachte sie eines Tages im November 1918 in der Demokratischen Republik Ungarn auf, die jedoch nur wenige Monate bestand; danach erlebte sie 1919 in den Wirren nach dem Ersten Weltkrieg die vom Roten Terror geprägte viermonatige kommunistische Diktatur der Ungarischen Räterepublik; ihre Jugendjahre verbrachte sie in der Tschechoslowakei, wo sie den Aufschwung der Region in der Zwischenkriegszeit beobachten durfte; nach der Zerstückelung des Landes durch Hitler wurde das Gebiet im März 1939 Teil der kurzerhand ausgerufenen Karpatenukraine, die jedoch formell nur wenige Wochen und de facto nur wenige Tage existierte; nun musste die junge Frau die Annexion von Transkarpatien durch das Horthy-Ungarn und die darauffolgende Vernichtung von Juden miterleben; nachdem die Rote Armee 1944 die Region befreit und gleichzeitig besetzt hatte, kehrte diese zunächst in die Tschechoslowakei zurück, inzwischen als »autonomer« Fremdkörper unter dem Namen Transkarpatische Ukraine unter sowjetischer Besatzung (sozusagen als eine Art »Donezker Volksrepublik«), bis sie 1945 endgültig in die Sowjetukraine inkorporiert wurde. Die Urgroßmutter hatte noch 1991 die ukrainische Unabhängigkeit miterlebt, bevor sie wenige Monate später verstarb.

Osteuropas Geschichte kapiert kein normaler Mensch im Westen
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