Die Ausstellung Vokiečių gatvė/Deutsche Straße in Wilna/Vilnius rezensiert Markus Nowak.
Mai/Juni 2022 – Kulturkorrespondenz östliches Europa № 1429

Plakat zur Ausstellung »Vokiečių gatvė/Deutsche Straße«Plakat zur Ausstellung »Vokiečių gatvė/Deutsche Straße«

»Bet aš vistiek gersiu alų savo Vokiečių gatvėj«, sang die litauische Hip-Hop-Band G & G Sindikatas Anfang der 2000er Jahre und thematisierte damit das Alkoholverbot auf öffentlichen Plätzen. »Aber ich werde weiterhin Bier auf meiner Vokiečių-Straße trinken«, lautet die deutsche Übersetzung. Der Song wurde zu einer Art popkultureller Hymne auf die Vokiečių-Straße – die Deutsche Straße in Wil-na/Vilnius. Ihr widmet sich nun eine Sonderausstellung im Vilnius Museum. Erste Pläne, ein Museum in der heutigen Hauptstadt Litauens zu eröffnen, gehen bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts zurück, als Wilna zu Polen gehörte. Eröffnet wurden die Räume allerdings erst im Frühjahr 2021.

In der Ausstellung ist allerlei Wissenswertes über die deutschen Einflüsse auf die heutige litauische Hauptstadt zu erfahren. Etwa, wieso es hier eine Deutsche Straße gibt. Wilna wurde 1323 die dritte Hauptstadt der Litauer und das blieb sie bis zur Union von Krewo 1385. Im 14. Jahrhundert überwog Holz-Architektur, bis auf zwei Areale: am Fuß des Gediminasberges, also der Burg, und eben in der Umgebung der Deutschen Straße. Dort gab es Bauten aus Backstein, den Deutsche in Vilnius einge-führt hatten. Die »deutsche Stadt«, wie sie später hieß, bildete sich mit deutschen Handwerkern und Kaufleuten aus Livland heraus und die Nikolaikirche war ihr Mittelpunkt. Die kleine Kirche ist das älteste noch erhaltene gotische Gotteshaus der Stadt – noch aus der Zeit vor der Christianisierung Litauens in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts.

Während die meisten Deutschen namenlos geblieben sind, tat sich damals schon ein deutscher Kaufmann hervor: Hanul. Er spielte eine wichtige Rolle im Konflikt um den Wilnaer Thron, besetzte 1382 mit seinen Truppen die Wilnaer Burg und übergab sie an den litauischen Großfürsten und späteren polnischen König Jogaila, polnisch Jagiełło. Der Großfürst machte Hanul daraufhin zu seinem Stellvertreter in der Stadt.

Die Deutsche Straße fügte sich später in die Struktur der Stadt ein und wurde zunehmend von den in Wilna siedelnden Juden bewohnt. Wilna wie auch die Deutsche Straße wurden mit den aus vielen Kulturkreisen stammenden Bewohnern zu einem Schmelztiegel der Kulturen. Und so ist der Titel der Ausstellung auf dem Plakat in polnischer, russischer, jiddischer, litauischer, belarussischer und deut-scher Sprache gehalten; sie allesamt wurden einst in Wilna gesprochen.

Bis zum Zweiten Weltkrieg, der in mehrfacher Hinsicht eine Zäsur war: Die jüdische Bevölkerung wurde im Holocaust ermordet, die polnische zwangsumgesiedelt und die Stadt lituanisiert. Auch ein großer Teil der Deutschen Straße wurde zerstört und durch sowjetische Architektur ersetzt. Auch diese Zeit wird in der Ausstellung thematisiert. Deutschen Besuchern steht übrigens ein vom Goethe-Institut Vilnius produzierter deutschsprachiger Audioguide zur Verfügung. Und für Durstige gibt es nach dem Museumsbesuch in der Vokiečių gatvė zahlreiche Biergärten.

Vokiečių gatvė/Deutsche Straße in Wilna/Vilnius
Vilniaus Muziejus, Vokiečių g. 6, 01130 Vilnius/Litauen
Di-Fr 15–19 Uhr, Sa, So 11–19 Uhr, noch bis 3. Juli 2022

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Titelblatt: KK – Kulturkorrespondenz östliches Europa | Ausgabe: Nr. 1429: Mai/Juni 2022Der Artikel erschien im Magazin
KK – Kulturkorrespondenz östliches Europa
Ausgabe Nr 1429 | Mai/Juni 2022
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mit dem Schwerpunktthema: Ukraine